Odin, einer der drei Söhne Bors und Bestlas, war das As der Asen — der große Vorsitzende im nordischen Götterrat. Eine Gestalt von unwahrscheinlichen Dimensionen: Herr des Himmels, Kenner und Beherrscher aller Mysterien, Dichter und Denker, Don Juan und ewiger Wanderer, Schlachtenlenker und Totengott: ausufernd nach allen Seiten.
Als Herr des Himmels residiert er in Asgard, auf einem reichgeschnitzten Hochsitz thronend. Zwei Wölfe, Geri und Freki, lagen zu seinen Füßen, und schnappten nach den leckeren Fleischhappen, die er ihnen zuwarf, denn Odin selbst ernährte sich nur von Met. Auf seinen Schultern hockten die beiden Raben Hugin und Mugin, der Gedanke und die Erinnerung, seine beiden hellwachen Informanten und flüsterten ihm ins Ohr, was sie von ihren Erkundungsflügen rund um die Welt mitgebract hatten.
Doch Odin wußte mehr, als seine kundigen Raben berichteten. Unablässig ne,üht, alles zu kennen und zu lernen, begab er sich oft auf Wanderschaft, um vertraute Gespräche mit Riesen und Elfen, mit Wald- und Wassergeistern zu pflegen und in menschlicher Gestalt in den Hütten des Menschen zu nächtigen. Gern kehrte er auch bei Mimir ein, einem seiner Onkel, der an den Wurzeln der Weltesche die Quelle der Weisheit bewachte. Um einen Blick in den Born der Erkenntnis zu werfen, hatte Odin ein Auge geopfert. Einäugig zog er durch die Welt, im weiten Mantel, den Schlapphut tief in die Stirn gezogen.
Trotzdem sah er mehr als andere. Auch die Zukunft lag offen vor seinem tiefen, alles durchdringenden Blick. Odin vermochte, nach den Worten der Ynglingasaga, die Schicksale der Menschen vorauszusagen ‘und ihnen Tod, Unheil oder Krankheit zu bescheren…’ Er wußte von vergangenen Schätzen und kannte Lieder und geheimnisvolle Formeln, die die Erde vor ihm öffneten, und ‘er verstand, durch Zaubersprüche alles zu bannen, was darin wohnte’. Solche magische Kraft erlaubte ihm auch, nach Belieben die Gestalt zu wechseln. Während ’sein Körper wie tot dalag’, führte Odin in Wahrheit das Leben eines Vogels, eines Fisches oder einer Schlange.
Odin entdeckte auch die Runen, jene geheimnisvollen nordischen Schriftzeichen, die mehr der Magie als der Verständigung dienten und daher vor allem auf Grab- und Gedenksteinen begegnen. Um sie zu finden, nahm er eine Art mythischen Selbstopfers auf sich. Neun Tage lang hing er im Geäst der Weltesche Yggdrasil, mit einem Speer verwundet, vergebens auf Hilfe wartend. Dann erblickte er, tief unter sich auf dem Boden, die magischen Stäbchen, erreichte sie unter großen Qualen und fiel verjüngt und erneuert vom Baum — eine tiefsinnige Erzählung, die die rituellen Opferorgien des Nordens hinlänglich erklärt.
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Rudolf Pörtner — DIE WIKINGER SAGA — Knaur
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